Unternehmenskultur ist wieder en vogue. Die HR-Beratungsfirma Gartner hat Kultur zum Topthema für das Jahr 2024 erkoren. HR-Fachleute haben entdeckt, dass Kultur eine wichtige Voraussetzung ist, damit Mitarbeitende im Unternehmen bleiben. Dies belegt z.B. die «Swiss-Champions»-Studie von PwC Schweiz. Im Zeitalter von Job-Bewertungsplattformen hat Kultur eine spürbare Auswirkung auf die Arbeitsmarktattraktivität eines Unternehmens. Nicht zuletzt hat die hybride Arbeit der Kultur zu neuer Beachtung verholfen, da Werte und Verhaltensweisen nicht mehr ohne Weiteres am Arbeitsplatz vermittelt werden.
Verhalten im Zentrum
Was macht das Thema Kultur so wichtig für Unternehmen? Nach der Definition von Ed Schein umfasst Kultur alle Werte und Einstellungen, die das Verhalten der Mitarbeitenden prägen. Aus Sicht der Organisationsökonomie regelt Kultur diejenigen Verhaltensweisen, die nicht vorgeschrieben oder in Verträgen vereinbart werden können. Und das ist im Alltag die überwältigende Mehrheit. Ein bekannter Fall sind Besprechungen: Es mag Meeting-Regeln geben, entscheidend ist jedoch, wie die Mitarbeitenden Besprechungen handhaben. Folglich bringt es wenig, einen «Kulturwandel» an sich zu verlangen, gefragt ist eine Änderung des Verhaltens in bestimmten Situationen, ohne dass dies eben verordnet werden muss.
Ein schwer fassbares Phänomen
Kultur ist freilich ein schwer fassbares Phänomen, das sich einfachen Rezepten entzieht. Zur Gestaltung der Unternehmenskultur bestehen in der Fachwelt unterschiedliche Standpunkte, die zum Teil weit auseinanderliegen. Das Spektrum reicht vom Macher-Ansatz bis hin zur systemischen Position, die eine direkte Gestaltbarkeit der Kultur verneint. In der Werkzeugkiste des Macher-Ansatzes finden sich Instrumente wie Appelle, Verhaltensrichtlinien oder Impulsveranstaltungen. Sie sollen direkt auf die erwünschte Haltung aufmerksam machen. Diese Interventionen bewegen allerdings wenig, solange ungünstige Rahmenbedingungen die alten Verhaltensmuster weiterhin stützen.
Hier kommen die systemischen Ansätze ins Spiel, die Unternehmenskultur indirekt über die Gestaltung des Kontexts beeinflussen wollen. Kontext umfasst von diesem Standpunkt alle entscheidbaren Rahmenbedingungen im Unternehmen, namentlich Zielvorgaben, Instrumente und Strukturen. Indirekte Massnahmen alleine dürften aber zu wenig Zugkraft entfalten, während Appelle an neue Werte ohne Blick auf den Kontext naiv wirken. Für einen echten Kulturwandel braucht es beides, die richtige Mischung aus direkten und indirekten Massnahmen. Um diese Mischung zu finden, hilft die Reflexion der Werte und ihrer Auswirkungen auf das Verhalten. Die Veränderung der Kultur ist damit durch das Dreieck von Werten, Verhalten und Kontext bestimmt.
Die Eckpunkte des Dreiecks
Sofern sie die Eckpunkte des Dreiecks im Auge behalten, können Führungskräfte viel zu einem «Kulturwandel» beitragen. Nur gibt es keine Instantlösungen, vielmehr ist kontinuierliche Arbeit gefragt. Am Anfang steht die Reflexion der Werte. Aus diesem Grund sind sie an der Spitze des Kultur-Dreiecks vermerkt: Welche Haltungen werden derzeit im Unternehmen gepflegt, wie wirken sie sich aus? Und welche neuen Sichtweisen wären hilfreich? Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit diesen Fragen erspart spätere Rechtfertigungen und vermeidet den Eindruck einer pauschalen Abwertung der bestehenden Kultur. HR-Fachleute können Führungskräfte bei der Reflexion unterstützen, indem sie Fragen und Beobachtungen sammeln, die in einem Führungsworkshop ausgewertet werden.
Im Alltag beginnen Führungskräfte am besten mit indirekten Mitteln, so bereiten sie den Boden für neue Arbeitsweisen. Ein Mittel, das gerne übersehen wird, ist das Entschlacken des Betriebs von unnötigen Vorschriften, Zuständigkeitsregeln und Kontrollen. In der Praxis scheitern viele neue Ideen an starren Strukturen. Zur Entschlackungskur gehören die Delegation von Befugnissen und die Vereinfachung von Kommunikationswegen. Das verschafft den Mitarbeitenden den notwendigen Freiraum, um neue Verhaltensweisen auszuprobieren. Darüber hinaus sind Tools wie Zielvereinbarungen und Controlling-Instrumente auf ihre Nebeneffekte zu überprüfen. Es ist unbedarft, von den Angestellten unternehmerisches Denken und Handeln zu fordern, wenn gleichzeitig die Mitarbeitendenbeurteilung zur Bestrafung von Risikofreude führt. Ein Tool-Check-Workshop mit den Verantwortlichen hilft, unerwünschte Effekte zu entdecken. HR-Fachleute können dazu ihre Beobachtungen aus dem Kontakt mit der Belegschaft beisteuern, im Idealfall ergänzt mit Daten aus HR-Systemen und aus Personalumfragen.
Erst jetzt sind direkte Massnahmen, also Appelle, Vorgaben und Schulungen, wirklich glaubwürdig. Eine Teamcharta oder ein Leitbild gelten als bewährte Mittel, um erwünschte Werte und Verhaltensweisen zu verdeutlichen. Sie haben den Vorteil, dass sie im Zweifelsfall den Mitarbeitenden eine Orientierungshilfe bieten. Daneben gibt es aber mindestens ebenso effektive Mittel, um Menschen für einen Werte- und Verhaltenswandel zu gewinnen. An erster Stelle steht das Vorbildhandeln der Führungskräfte, beispielsweise die Art, wie sie Aufträge erteilen und Rückmeldungen geben. Der Umgangston und die individuelle Behandlung der Mitarbeitenden sind weitere Elemente, mit denen Führungskräfte den «erwünschten Stil» demonstrieren können.
Ein anderer Weg besteht darin, die Mitarbeitenden neue Arbeitsweisen selbst erleben zu lassen. Dafür eignet sich die Projektarbeit, bei der z.B. neue Rollen oder ko-kreative Workshopformate ausprobiert werden. Projekte sind einer der Orte, an denen die Mitarbeitenden fach- und hierarchieübergreifende Zusammenarbeit erleben und vertiefen können. Selbst einfache Meetings und Besprechungen bieten die Gelegenheit zum «Musterbruch», etwa wenn Mitarbeitende die Diskussion leiten oder Gäste am Schluss die Ergebnisse kommentieren.
Workshops und interne Schulungen mögen weiterhin wichtige Instrumente sein, um Kompetenzen zu erweitern und Denkanstösse zu vermitteln. Jedoch gibt es auch dazu einige Alternativen, bei denen HR-Fachleute die Führungskräfte beraten können.
Kulturwandel gleicht einer Reise, die Fingerspitzengefühl und Geduld verlangt. Hauruck-Aktionen geraten schnell in den Geruch von «Organisationskosmetik», isolierte Interventionen wirken konzeptlos. Nur im sorgfältig aufeinander abgestimmten Ensemble greifen die Massnahmen. Eine periodische Überprüfung verhindert, dass Führungskräfte oder einzelne Teams vom Weg abkommen. Das heisst, die Verantwortlichen sollten fortlaufend zwischen den Eckpunkten des Dreiecks navigieren. Kulturwandel benötigt letztlich den gleich langen Atem wie der Aufbau einer Marke. Für engagierte Führungskräfte gibt es genügend Möglichkeiten, die Kultur zu prägen. Grosse Programme sind nicht einmal notwendig, ein Bündel kleinerer Massnahmen dürfte sogar eher zum Erfolg führen.
KULTURWANDEL: ANREGUNGEN FÜR DIE PRAXIS
Reflexion (Werte)
• Kultur-Backlog für Anliegen und Erkenntnisse einrichten, der in Leitungs- oder in Strategie-Workshops regelmässig ausgewertet wird. Ergänzend können Kultur-Beobachter Anregungen und Erlebnisse auf dem Backlog platzieren.
Indirekte Massnahmen (Kontext)
• Entschlacken: Eine Arbeitsgruppe sucht systematisch nach überflüssigen Regeln und anderem Ballast im Betrieb, das darf sich auch auf Zielsysteme und Controlling erstrecken.
• Anreize setzen: Experimente (mit offenem Ausgang!) in die Zielvereinbarung aufnehmen.
• Initiativen von unten aktiv unterstützen: Mitarbeitende können ihre Ideen einem Führungsgremium vorschlagen, ein Mitglied übernimmt danach die Sponsorenrolle (nur hilfreich, wenn es ernst gemeint ist).
Direkte Massnahmen (Verhalten)
• Erwünschte Werte sichtbar machen: Erfolgsbeispiele, die erwünschte Werte und Arbeitsweisen veranschaulichen, gezielt sammeln und in Form von Geschichten verbreiten (Storytelling, darf auch von unten kommen).
• Erlebenlassen 1: Im ko-kreativen Format des Hackathons suchen Mitarbeitende in fachübergreifenden Arbeitsgruppen nach Lösungen für betriebliche Probleme.
• Erlebenlassen 2: In Retrospektiven, d.h. Treffen zur Rückschau auf die Arbeit im Team, lernen Mitarbeitende, die eigene Arbeitsweise auf konstruktive Art zu hinterfragen.
• Erlebenlassen 3: Eine weitere Möglichkeit sind selbst organisierte Lern- und Arbeitsgruppen. Sie geben sich eigene Aufträge, die bei Bedarf von der Leitung bestätigt werden.
• Impulse vermitteln: Nebst Schulungen und Workshops vermittelt der Besuch eines anderen Teams oder eines anderen Betriebs Anregungen für neue Arbeitsweisen («Seitenwechsel»), ein bewusster Wechsel der Berufsgruppe oder der Branche kann den Impuls noch verstärken.