Gespräche verlaufen ungemein schnell. Wir fragen etwas. Die andere Person gibt uns eine Antwort. Wir kommentieren diese. Unser Gegenüber bestätigt das Gesagte oder auch nicht. Es nimmt etwas von dem auf, das wir gesagt haben. Wir reagieren darauf.
So oder so ähnlich spielen sich Gespräche Moment für Moment, Sekunde für Sekunde ab. Innerhalb von wenigen Sekunden tun alle am Gespräch Beteiligten unglaublich viel. Neben dem Gesagten schauen sich die Gesprächspartner*innen an, schauen weg beim Denken, kommen mit dem Blickkontakt wieder zurück, nicken, blinzeln sich fast im genau gleichen Moment an, bestätigen mit «mhmm», neigen ihren Kopf, wenn sie etwas nicht verstehen, und tun noch ein Vielfaches mehr.
Die meisten Gespräche, die wir tagtäglich führen, haben kein Drehbuch. Wir sind keine «schlechten» Schauspieler*innen, die ihren Text auswendig gelernt haben und dann im Moment so reagieren, wie das Drehbuch es vorschlägt. Im Gegenteil, wir haben in vielen Momenten die Möglichkeit, auf unterschiedlichste Art zu reagieren. Diese Möglichkeiten nehmen wir jedoch nicht immer gezielt wahr.
Struktur und Freiheit
Gespräche verlaufen jedoch nicht beliebig. Es gibt gewisse Verhaltensweisen, die nach entsprechenden Äusserungen im Dialog «verlangt» werden. Kennen Sie die Logik dieser Äusserungen, dann können Sie gezielt entscheiden, ob Sie mit dem Gesprächsangebot mitgehen wollen und sozusagen dem Drehbuch folgen oder ob Sie improvisieren wollen.
Die Balance zwischen Struktur und Freiheit ist ein wichtiges Prinzip in der angewandten Improvisation. Je besser Sie die jeweilige Struktur kennen, desto gezielter können Sie einerseits die Freiheiten nutzen, die sich innerhalb der Struktur anbieten. Andererseits können Sie die Struktur leichter hinterfragen und entsprechend zielführend darauf reagieren.
Interaktive Funktionen
Die International Microanalysis Associates, die sich intensiv mit Gesprächsanalyse auseinandersetzen, haben analysiert, welche Funktionen Äusserungen im Dialog haben, oder anders formuliert, welchen Zweck gewisse Äusse rungen im Gespräch verfolgen. Sie haben 15 interaktive Funktionen entdeckt, von denen wir Ihnen die neun mit dem aus unserer Sicht grössten Improvisationspotenzial zeigen wollen.
Scripting (Initiieren eines Skripts) sowie Following (dem Skript folgen)
Gewisse Äusserungen starten oder initiieren ein Skript, sozusagen ein Drehbuch, wie das Gespräch unmittelbar danach weitergeht. Das jeweilige Drehbuch kennen wir von klein auf. Wir wurden in unserer Kultur entsprechend sozialisiert. Wir folgen dem Skript in den meisten Fällen.
Gute Beispiele fi nden oft im Rahmen der üblichen Begrüssung statt, z.B.:
«Hallo», Nicken, «Hallo», Nicken, «Wie geht’s?», «gut», «Und Ihnen?», «auch gut».
Wir wissen, wie wir sozial konform auf ein «Hallo» oder auf ein «Wie geht es Ihnen?» reagieren sollen respektive, wann es angebracht ist, dieses Drehbuch zu starten oder diesem zu folgen. Reagieren wir anders, was wir oft nicht tun, jedoch jederzeit tun könnten, dann ist dies meist ungewohnt. Wenn wir auf ein «Hallo» nicht mit einem Nicken oder einem «Hallo» (oder zumindest mit etwas Äquivalentem) reagieren, sondern etwas anderes sagen, dann wird dies vielfach als brüskierend wahrgenommen. Je nach Ziel, das wir im Gespräch verfolgen, kann dies jedoch durchaus eine mögliche Alternative sein.
Requesting (neuen sachlichen Inhalt anfragen) sowie Contributing (neuen sachlichen Inhalt beitragen)
Eine andere Art der Äusserung sind Fragen. Diese bezwecken vielfach, sachlichen Inhalt anzufragen, der für die fragende Person noch unbekannt ist. Auf eine Frage folgt meistens eine Antwort, die neuen sachlichen Inhalt beiträgt, und so die Frage beantwortet, z.B.:
«Was ist Ihr Ziel?» «Ich möchte eine bessere Beziehung mit meiner Chefi n.» «Wo wohnen Sie?» «In der Hausgasse 7.»
Fragen haben einen grossen Einfluss auf ein Gespräch. Studien zeigen, dass in Gesprächen rund 97% aller Fragen zumindest teilweise beantwortet werden. Das heisst, dass das Gespräch in aller Regel nach einer Frage in die vorgeschlagene Richtung der Frage geht. Auf die Frage nach dem Ziel ergibt sich vielfach ein Gespräch über Ziele. Auf die Frage nach dem Wohnort folgt zumindest kurzfristig ein Gespräch darüber, wer wo wohnt.
Nicht umsonst werden Fragen in vielen Ansätzen als Führungsinstrument beschrieben. Führen mit Fragen ist aus unserer Sicht vor allem darum in aller Munde, weil den Fragen oft mit einer Antwort gefolgt wird.
Ein anderer spannender Aspekt von Fragen ist die Tatsache, dass Fragen Vorannahmen enthalten. Die Frage nach dem Ziel nimmt zum Beispiel an, dass Sie ein Ziel haben oder eines formulieren können. Antworten Sie auf die Frage mit einer Antwort, dann akzeptieren Sie diese Voran-nahmen mit Ihrer Antwort. Aus «Was ist Ihr Ziel?>' und Ihrer Antwort «Ich möchte eine bessere Beziehung mit meiner Chefin>' wurde die bessere Beziehung mit Ihrer Chefin zu Ihrem Ziel. Sie haben mit Ihrer Antwort die Vor-annahme, dass Sie ein Ziel haben respektive ein Ziel formulieren können, akzeptiert und können nach Ihrer Antwort nun nicht mehr oder nur schwer behaupten, dass Sie kein Ziel haben oder kein Ziel hatten.
Seien Sie deshalb vorsichtig, welche Fragen Sie beantworten respektive zu welchen Vorannahmen Sie Ja sagen. Wenn Sie eine Frage nicht beantworten wollen, improvisieren Sie, tun Sie etwas anderes, als die Frage ordentlich zu beantworten. Sie können dies beispielsweise tun, indem Sie andere Inhalte als die erfragten zur Antwort beitragen.
Wenn Sie zum Beispiel gefragt werden: «Was ist das oder was ist Ihr Problem?>', dann könnten Sie, ohne zu sagen, dass Sie es nicht sinnvoll fi nden, über Probleme zu reden, zum Beispiel sagen:
«Wenn ich so darüber nachdenke, dann merke ich, dass mein Ziel eine bessere Beziehung mit meiner Chefin ist.»
Proposing (etwas vorschlagen) sowie Accepting (Akzeptieren des Vorschlags)
Ebenfalls eine elegante Variante, um ungewünschte Fragen nicht zu beantworten, sind Äusserungen, die etwas anderes vorschlagen als das, was gerade geschieht, z.B.:
- «Ich würde gerne später über meine Ziele sprechen. Ist es okay, wenn ich Ihnen zuerst einmal schildere, was ich gerade mache?»
- «Ich fände es passender, wenn Sie mir zuerst etwas über sich erzählen.»
Vielfach wird der Vorschlag akzeptiert.
Zum Beispiel: «Okay, das können wir gerne so machen.»
Alerting (Signalisieren, dass eine Ausbesserung erforderlich ist)
Diese Form der Äusserung signalisiert, dass es Schwierigkeiten beim Hören oder Verstehen gibt, z.B.:
«Jetzt habe ich Sie nicht verstanden. Könnten Sie die Frage nochmals wiederholen?»
Reintroducing (Information wiedereinführen)
Beantwortet jemand zum Beispiel Ihre Fragen nicht, dann können Sie die Inhalte der Frage, die zuvor vom Gesprächsgegenüber bereits gehört wurden, wiedereinführen ins Gespräch, z.B.:
«Ich habe vorher mal gefragt, was Ihr Ziel sei, und würde mich sehr dafür interessieren. Mögen Sie mir mehr darüber erzählen?»
Formulating (Formulieren oder Aufnehmen, was die andere Person gesagt hat)
Eine schöne Variante, neben Fragen, das Gespräch in eine gewünschte Richtung zu lenken, ist es, das Gesagte der Person auf eine zielführende Art aufzunehmen. Wenn Sie auf die Frage nach dem Ziel zum Beispiel noch keine Antwort erhalten, dann könnten Sie das, was die Person gesagt hat und schon in diese Richtung geht, formulieren.
Zum Beispiel: «Ich möchte nicht über meine Ziele sprechen.» «Okay, wenn Sie nicht über Ihre Ziele sprechen möchten, worüber möchten Sie dann sprechen?»
Obwohl die meisten Gespräche, die Sie tagtäglich führen, kein Drehbuch haben, verlangen gewisse Äusserungen spezifische Reaktionen. Kennen Sie die interaktiven Funktionen, dann können Sie gezielt darauf eingehen oder durch Improvisieren das Gespräch in eine gewünschte Richtung lenken.