18. Juni 2025

Unterwegs: Wie Kontexte verändern

Unterwegs

Wer wir sind, hängt stark vom Kontext ab. Je nach Umgebung verhalten wir uns anders und werden zu einer anderen Person. Ändern wir den Kontext, ändert sich vieles.

Von: Elfriede Czerny, Dominik Godat  

Elfriede Czerny

Sie ist Coach und Potenzialentwicklerin. Gemeinsam mit Dominik Godat leitet sie das Zent­rum für lösungsfokussierte Führung.

Dominik Godat

Er ist Studienleiter des CAS Coaching als Führungs­kompetenz an der Hochschule Luzern und Buchautor.

«Wer bin ich? Und wenn ja, wie viele?», fragte Richard David Precht in seinem Buch 2007, in dem er die Lesenden an die grossen philosophischen Fragen des Lebens heranführte. Was komisch klingt – viele zu sein –, hat tatsächlich seine Berechtigung. Wir sind die, die wir sind, in dem Kontext, in dem wir sind. Ändert sich der Kontext, müssen auch wir uns fast zwangsläufig mit­ändern. So gesehen, sind wir jeweils eine andere Person in einem anderen Kontext.

Auf den Kontext kommt es an

Wären Sie in Islamabad in Pakistan geboren, wären Sie mit grösster Wahr­scheinlichkeit Muslim*in. In Mumbai wären Sie als Hindu geboren und würden den Elefantengott Ganesha um Glück bitten. Sind Sie, wie wir, in Öster reich oder der Schweiz geboren, gehören Sie wahrscheinlich dem christ­lichen Glauben an oder sind ohne Reli­gionszugehörigkeit und haben mit Gott vielleicht nicht viel am Hut.

Während wir uns hier in unserem Kon­text eher als Individuen und weniger als Teil einer Gemeinschaft sehen, ist in vielen ostasiatischen Ländern das Wohl der Gruppe oft wichtiger als das individuelle Interesse. Auch in Latein­amerika und arabischen Kulturen wird grosser Wert auf familiären und ge­meinschaftlichen Zusammenhalt ge­legt. Wir waren erstaunt. Als wir einen Einheimischen auf den Malediven ge­fragt haben, ob er mal nach Europa reisen möchte, antwortete er uns mit: «Nein, denn wer bin ich ohne meine Familie? Ich wäre allein und ein nie­ mand.» Wären Sie so aufgewachsen, wie er, hätten Sie wohl auch ein ähnli­ches Gemeinschaftsgefühl.

In Japan wird traditionell viel Wert auf Harmonie und Gruppenkonsens ge­legt. Entscheidungen werden oft im Team getroffen, und das Streben nach Übereinstimmung ist ein wichtiger ge­sellschaftlicher Wert. Bei indigenen Völkern, wie zum Beispiel den Maori in Neuseeland, ist das Bewahren von Traditionen ein zentraler Aspekt des Lebens. In Ländern wie Ägypten oder Marokko sind die Familie und das ge­meinschaftliche Miteinander essen­ziell. Hier stehen Gastfreundschaft und familiärer Zusammenhalt im Mit­telpunkt des sozialen Lebens.

Wären Sie in einem solchen Kontext sozialisiert, würden Sie diese Verhal­tensweisen als die natürlichsten der Welt erleben. In unserem Kontext gelten andere Regeln, andere Verhal­tensweisen werden als gut gesehen oder anderes als richtig und wichtig. Wir wurden mit anderen Werten sozi­alisiert und finden diese ganz normal.

Wenn sich der Kontext ändert 

Wechseln wir jedoch den Kontext, sind wir gefordert. Unsere bekannten Re­geln, Normen und Werte gelten plötz­lich nicht mehr, und wir müssen uns zumindest damit auseinandersetzen und in vielen Fällen auch anpassen:

Ein guter Freund, den wir seit dem Studium in der Schweiz kennen, wan­derte aus und heiratete in Buenos Aires, Argentinien. Also sind wir hin­geflogen und haben vier Wochen in Argentinien verbracht. Bereits am ersten Tag merkten wir, dass Pünkt­lichkeit einen anderen Stellenwert hatte und anders organisiert wird. Während wir uns in der Schweiz oft an einem Ort in der Stadt verabre­den und uns dann ärgern, wenn je­mand zu spät kommt, machen die Argentinier*innen bei jemandem zu Hause oder in einem Restaurant ab. Da spielt es keine Rolle, wann jemand kommt. Die vereinbarte Zeit gilt als Richtwert. Als wir das begriffen, verhielten wir uns wie Argentinier*innen. Wir kamen auch erst zwei Stunden nach dem verein­barten Treffpunkt an, was unser aus­gewanderter Freund gar nicht gou­tierte: «Ihr seid Schweizer*innen, ihr müsst pünktlich erscheinen», war sein Kommentar auf unser vermeint­liches Zuspätkommen. Was wir mit einem Kopfschütteln goutierten.

Als ich, Dominik, 17 Jahre alt war, machte ich ein Austauschjahr in den USA. Ich genoss dies dermas­sen, dass ich mich schon bald wie ein richtiger Amerikaner und nicht mehr wie ein Schweizer verhielt. Ich schlief während des Unterrichts in der Schule, ich fuhr überall nur noch mit dem Auto hin, ich ass wie die Amerikaner*innen mit einer Hand unter dem Tisch, ich übernahm die amerikanischen Narrative, ich wurde durch und durch Amerikaner. Als ich wieder in der Schweiz war, dauerte es drei bis vier Monate, bis ich wie­der die Schweizer Gepflogenheiten annahm.

Während unserer 2,5­jährigen Wohn­mobilreise durch die USA und Kanada sagte unsere dreijährige Tochter nach ca. vier Monaten, dass sie nun nur noch English redet. Innerhalb kurzer Zeit verhielt sie sich wie eine Kanadi­erin, die auf dem Spielplatz nur noch auffiel, weil sie als «kanadisches Kind» zwei europäische Eltern hatte.

Ein guter Freund wuchs als Kolum­bianer, seine Mutter war Kolumbia­ nerin, in der Schweiz auf. Dort fiel er vielfach auf durch seine südame­rikanische Art und sein Macho­Ge­habe. Er zelebrierte dies so richtig und genoss seinen Sonderstatus. Anfang 30 wanderte er dann nach Mexiko aus. Dort fiel er auf wegen seiner Schweizer Art, die er dort zelebrierte.

Unterwegs in unterschiedlichen Kontexten

Wir müssen gar nicht mal so viel un­terwegs sein, um Veränderungen des Kontexts zu erfahren. Wir sind vielfach bereits in unterschiedlichen Kontexten unterwegs. Sie sind wahrscheinlich bereits eine andere Person, wenn Sie in Ihrem vertrauten Zuhause sind und nicht auf der Arbeit. Oder im Sportver­ein und nicht im Musikverein. Wenn Sie mit guten Freunden etwas trinken gehen, verhalten Sie sich sehr wahr­scheinlich anders, wie wenn Sie bei Ihren Schwiegereltern sind.

Zudem ändern sich Kontexte laufend. Wenn Sie zum Beispiel eine neue Be­ziehung eingehen, von der Stadt aufs Land ziehen oder das Unternehmen wechseln, dann ändern sich vielfach die gelebten Werte und Normen. Das, was Sie als selbstverständlich sehen, ist plötzlich neu und anders. Während Sie in deutschen oder französischen Unternehmen zum Beispiel vielfach mit Hierarchien und «Sie»­Kultur vertraut sind, erleben Sie in einem Schweizer Unternehmen eher eine «Du»­Kultur mit flacheren Hierarchien. Wenn Sie mit einer amerikanischen «Hire­and­Fire»­Mentalität aufgewachsen sind, werden Sie sich in einem gewerkschaftlich or­ganisierten Unternehmen sehr stark anpassen müssen. Wenn Sie gewohnt sind, in der Stadt schnell am Abend noch ins Theater zu gehen, dann müs­sen Sie sich auf dem Land ein anderes Vergnügen suchen. Wir sind, wer wir sind, in dem Kontext, in dem wir sind, und je nach Kontext eben viele.

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