«Wer bin ich? Und wenn ja, wie viele?», fragte Richard David Precht in seinem Buch 2007, in dem er die Lesenden an die grossen philosophischen Fragen des Lebens heranführte. Was komisch klingt – viele zu sein –, hat tatsächlich seine Berechtigung. Wir sind die, die wir sind, in dem Kontext, in dem wir sind. Ändert sich der Kontext, müssen auch wir uns fast zwangsläufig mitändern. So gesehen, sind wir jeweils eine andere Person in einem anderen Kontext.
Auf den Kontext kommt es an
Wären Sie in Islamabad in Pakistan geboren, wären Sie mit grösster Wahrscheinlichkeit Muslim*in. In Mumbai wären Sie als Hindu geboren und würden den Elefantengott Ganesha um Glück bitten. Sind Sie, wie wir, in Öster reich oder der Schweiz geboren, gehören Sie wahrscheinlich dem christlichen Glauben an oder sind ohne Religionszugehörigkeit und haben mit Gott vielleicht nicht viel am Hut.
Während wir uns hier in unserem Kontext eher als Individuen und weniger als Teil einer Gemeinschaft sehen, ist in vielen ostasiatischen Ländern das Wohl der Gruppe oft wichtiger als das individuelle Interesse. Auch in Lateinamerika und arabischen Kulturen wird grosser Wert auf familiären und gemeinschaftlichen Zusammenhalt gelegt. Wir waren erstaunt. Als wir einen Einheimischen auf den Malediven gefragt haben, ob er mal nach Europa reisen möchte, antwortete er uns mit: «Nein, denn wer bin ich ohne meine Familie? Ich wäre allein und ein nie mand.» Wären Sie so aufgewachsen, wie er, hätten Sie wohl auch ein ähnliches Gemeinschaftsgefühl.
In Japan wird traditionell viel Wert auf Harmonie und Gruppenkonsens gelegt. Entscheidungen werden oft im Team getroffen, und das Streben nach Übereinstimmung ist ein wichtiger gesellschaftlicher Wert. Bei indigenen Völkern, wie zum Beispiel den Maori in Neuseeland, ist das Bewahren von Traditionen ein zentraler Aspekt des Lebens. In Ländern wie Ägypten oder Marokko sind die Familie und das gemeinschaftliche Miteinander essenziell. Hier stehen Gastfreundschaft und familiärer Zusammenhalt im Mittelpunkt des sozialen Lebens.
Wären Sie in einem solchen Kontext sozialisiert, würden Sie diese Verhaltensweisen als die natürlichsten der Welt erleben. In unserem Kontext gelten andere Regeln, andere Verhaltensweisen werden als gut gesehen oder anderes als richtig und wichtig. Wir wurden mit anderen Werten sozialisiert und finden diese ganz normal.
Wenn sich der Kontext ändert
Wechseln wir jedoch den Kontext, sind wir gefordert. Unsere bekannten Regeln, Normen und Werte gelten plötzlich nicht mehr, und wir müssen uns zumindest damit auseinandersetzen und in vielen Fällen auch anpassen:
Ein guter Freund, den wir seit dem Studium in der Schweiz kennen, wanderte aus und heiratete in Buenos Aires, Argentinien. Also sind wir hingeflogen und haben vier Wochen in Argentinien verbracht. Bereits am ersten Tag merkten wir, dass Pünktlichkeit einen anderen Stellenwert hatte und anders organisiert wird. Während wir uns in der Schweiz oft an einem Ort in der Stadt verabreden und uns dann ärgern, wenn jemand zu spät kommt, machen die Argentinier*innen bei jemandem zu Hause oder in einem Restaurant ab. Da spielt es keine Rolle, wann jemand kommt. Die vereinbarte Zeit gilt als Richtwert. Als wir das begriffen, verhielten wir uns wie Argentinier*innen. Wir kamen auch erst zwei Stunden nach dem vereinbarten Treffpunkt an, was unser ausgewanderter Freund gar nicht goutierte: «Ihr seid Schweizer*innen, ihr müsst pünktlich erscheinen», war sein Kommentar auf unser vermeintliches Zuspätkommen. Was wir mit einem Kopfschütteln goutierten.
Als ich, Dominik, 17 Jahre alt war, machte ich ein Austauschjahr in den USA. Ich genoss dies dermassen, dass ich mich schon bald wie ein richtiger Amerikaner und nicht mehr wie ein Schweizer verhielt. Ich schlief während des Unterrichts in der Schule, ich fuhr überall nur noch mit dem Auto hin, ich ass wie die Amerikaner*innen mit einer Hand unter dem Tisch, ich übernahm die amerikanischen Narrative, ich wurde durch und durch Amerikaner. Als ich wieder in der Schweiz war, dauerte es drei bis vier Monate, bis ich wieder die Schweizer Gepflogenheiten annahm.
Während unserer 2,5jährigen Wohnmobilreise durch die USA und Kanada sagte unsere dreijährige Tochter nach ca. vier Monaten, dass sie nun nur noch English redet. Innerhalb kurzer Zeit verhielt sie sich wie eine Kanadierin, die auf dem Spielplatz nur noch auffiel, weil sie als «kanadisches Kind» zwei europäische Eltern hatte.
Ein guter Freund wuchs als Kolumbianer, seine Mutter war Kolumbia nerin, in der Schweiz auf. Dort fiel er vielfach auf durch seine südamerikanische Art und sein MachoGehabe. Er zelebrierte dies so richtig und genoss seinen Sonderstatus. Anfang 30 wanderte er dann nach Mexiko aus. Dort fiel er auf wegen seiner Schweizer Art, die er dort zelebrierte.
Unterwegs in unterschiedlichen Kontexten
Wir müssen gar nicht mal so viel unterwegs sein, um Veränderungen des Kontexts zu erfahren. Wir sind vielfach bereits in unterschiedlichen Kontexten unterwegs. Sie sind wahrscheinlich bereits eine andere Person, wenn Sie in Ihrem vertrauten Zuhause sind und nicht auf der Arbeit. Oder im Sportverein und nicht im Musikverein. Wenn Sie mit guten Freunden etwas trinken gehen, verhalten Sie sich sehr wahrscheinlich anders, wie wenn Sie bei Ihren Schwiegereltern sind.
Zudem ändern sich Kontexte laufend. Wenn Sie zum Beispiel eine neue Beziehung eingehen, von der Stadt aufs Land ziehen oder das Unternehmen wechseln, dann ändern sich vielfach die gelebten Werte und Normen. Das, was Sie als selbstverständlich sehen, ist plötzlich neu und anders. Während Sie in deutschen oder französischen Unternehmen zum Beispiel vielfach mit Hierarchien und «Sie»Kultur vertraut sind, erleben Sie in einem Schweizer Unternehmen eher eine «Du»Kultur mit flacheren Hierarchien. Wenn Sie mit einer amerikanischen «HireandFire»Mentalität aufgewachsen sind, werden Sie sich in einem gewerkschaftlich organisierten Unternehmen sehr stark anpassen müssen. Wenn Sie gewohnt sind, in der Stadt schnell am Abend noch ins Theater zu gehen, dann müssen Sie sich auf dem Land ein anderes Vergnügen suchen. Wir sind, wer wir sind, in dem Kontext, in dem wir sind, und je nach Kontext eben viele.