«Ich bin eben ein bisschen perfektionistisch. » Diese Aussage hört sich fast wie ein Selbstkompliment an. Sie impliziert, dass Perfektionismus zu besseren Ergebnissen führt. Perfektionismus wird als der Wunsch verstanden, alles noch besser zu machen. Doch hat er wirklich diesen Effekt? Oder steht er diesem Ziel sogar im Weg?
Wer perfektionistische Tendenzen bei sich entdeckt, der ist nur allzu vertraut mit: Kopfkino, akribischer Recherche und Zerdenken von möglichen Zukunftsszenarien. Auch im Rückblick sind Perfektionist*innen nie zufrieden: Selten sind sie stolz auf ihre Leistung. Im Gegenteil, was oft folgt, ist eine Art Selbstgeisselung, wenn etwas nicht hundertprozentig geklappt hat.
Besonders wir Frauen werden dazu konditioniert, zu denken: «Ich muss alles schaffen. Und ich muss alles perfekt schaffen.» Wir hinterfragen diese Botschaft kaum. Stattdessen greifen wir zu jedem Tipp, der uns «noch besser» macht und uns dem Ideal der Superwoman näherbringt. Doch es wächst das nagende Gefühl, nie gut genug zu sein.
DAS SUPERWOMAN-SYNDROM: Von aussen sehen wir aus wie eine Superwoman, und innen würden wir gerne eine sein. Doch wir fühlen uns oft gar nicht so, sondern denken nur an das, was wir noch nicht schaffen, was wir noch mehr tun müssten, wo wir versagen (könnten) und was alles noch nicht so perfekt läuft.
Das Problem dabei ist: Egal, was du tust, die innere Stimme wird nie zufrieden sein. Immer fällt dir noch etwas ein, das du besser machen könntest. Immer wieder wirst du etwas finden, was noch nicht gut genug ist. Du wirst ewig der Karotte am Stab hinterherlaufen und unzufrieden bleiben, wenn auch sehr beschäftigt.
Eine Perfektionistin kann es sich selbst nie recht machen
Was dabei verloren geht: die Leichtigkeit, die Verspieltheit, die Kreativität, das Lachen, der Genuss ... Das sind doch alles Elemente, die wir uns wünschen. Die wir auch bei anderen Leuten bewundern. Doch die Superwoman ist immer auf dem Sprung. Sie denkt ständig an das, was noch zu tun wäre. Sie kann kaum abschalten und sich gehen lassen. Ist die Superwoman doch nicht so perfekt?
Das Problem der Superwoman ist, dass das Innen und das Aussen auseinanderdriften. Nach aussen wirkt sie, als hätte sie alles im Griff. Als Hochleistungsarbeiterbiene hat sie ihre Fühler überall. Sie jongliert Dutzende Bälle gleichzeitig, hat alle Details im Kopf, und ohne sie würde alles zusammenbrechen. Sie bekommt Komplimente, wie sie das alles schafft. Und weil sie ihren Selbstwert von diesen Aussagen bezieht, lechzt sie nach dieser Art von Komplimenten und macht unbeirrt weiter.
Doch innerlich sieht es komplett anders aus: Auch die Superwoman hat Selbstzweifel. Sie sieht sich im Spiegel und findet sich: «Nicht gut genug. Da muss einiges verbessert werden.» Sie denkt an ihren Job, und es fallen ihr jede Menge Situationen ein, in denen sie sich suboptimal verhalten hat. In Gedanken führt sie eine ellenlange Liste an Verbesserungspunkten für ihr Leben. Dafür sucht sie sich Rolemodels, liest Bücher für Persönlichkeitsentwicklung und trainiert sich Mikrogewohnheiten an, die sie zu einem besseren Menschen machen sollen. Also eigentlich zu einem perfekten Menschen. Doch das Gegenteil passiert.
Perfektionismus hält uns klein
Bei genauerer Betrachtung entpuppt sich Perfektionismus als: die Angst, etwas falsch zu machen. Besonders Frauen spüren diesen Druck. Sowohl am Arbeitsplatz als auch im Privaten stellen sie an sich selbst oft extrem hohe Ansprüche. Doch entgegen der landläufigen Meinung führt dieser Druck nicht dazu, dass diese Frauen erfolgreicher sind, sondern er lähmt sie und hält sie in einem Hamsterrad gefangen. Ihre innere Stimme sagt: «Du bist noch nicht gut genug, es steht dir nicht zu, hier etwas zu sagen, zu verlangen oder Raum einzunehmen.»
«Imposter» ist Englisch für «Hochstapler*in». Das gleichnamige Syndrom bezeichnet diese innere Stimme, die ständig an unserer Legitimität zweifelt. Die uns sagt: «Wer bist du, um dich hier wichtig zu machen? Du hast ja eigentlich keine Ahnung. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis du auffliegst.»
Das Imposter-Syndrom ist universal und kann Menschen jeden Geschlechts, Alters und jeder beruflichen Ebene betreffen. Also keinesfalls nur Leute, die den gesellschaftlichen Standards nicht gerecht werden – ganz im Gegenteil. Meistens sind es sogenannte High Achievers, die sich selbst zu immer höheren Leistungen pushen. Und zwar nicht aus Spass, sondern weil sie sich unwürdig fühlen. Aber egal, wie viel sie auch erreichen, sie kommen nie an dem Punkt an, an dem sie sich «gut genug» fühlen. Aus meiner Erfahrung im Coaching passiert sogar das Gegenteil.
Gaby hegte schon lange den Wunsch, eine Führungsfunktion zu übernehmen. Sie sprach das Thema mehrmals bei ihrem Vorgesetzten an, und als dann eine Position frei wurde, bekam sie den Job. Doch was sie sich erhofft hatte, trat nicht ein. Sie hatte gedacht, wenn sie endlich eine Führungsfunktion hat, dann wird sie sich trauen, selbstbewusster aufzutreten, ihre Meinung offen und klar zu sagen. Der Titel wird ihr die Legitimation geben, um Arbeiten zu delegieren, Konflikte anzusprechen und Projekte voranzutreiben. Bei all dem hatte sie sich in der Vergangenheit zurückgehalten, weil sie dachte, es stehe ihr nicht zu.
Doch anstatt der erhofften Selbstsicherheit überfielen sie schon bald Selbstzweifel, und ihre Gedanken zogen sie in den Abgrund: «Wieso sollst ausgerechnet du diese Rolle haben? Du weisst ja gar nicht alles. Die Leute aus deinem Team haben teilweise viel mehr Erfahrung. Was hast du eigentlich Spezielles, das dich als Führungskraft qualifizieren würde? Du hast doch keine Ahnung, was du hier tust. Sag ja nichts Falsches, sonst fliegst du auf.»
Überhöhte Ansprüche an sich selbst
Die Diskrepanz zwischen der äusseren und inneren Welt war für Gaby so unerträglich, dass sie mit dem Gedanken spielte, die Führungsfunktion wieder abzugeben. Dann würde immerhin das Spannungsfeld zwischen ihren eigenen Erwartungen und der Realität nicht mehr so gross sein. Gaby sprach sogar mit ihrem Vorgesetzten darüber. Dieser redete ihr zwar gut zu, aber ihre innere Welt konnte er nicht verstehen.
Als Gaby ihre Gedanken mit den Frauen im Gruppen-Coaching teilte, konnten viele nachvollziehen, was sie meinte. Viele Frauen kämpfen täglich mit Selbstzweifeln. Zwar nicht unbedingt, wenn sie allein in ihrem Büro vor sich hin arbeiten. Viele der Frauen bezeichnen sich im Alltag als selbstbewusst und stark. Doch sobald sie vor einer höherrangigen Person etwas vortragen sollen, wenn sie etwas präsentieren oder einen Workshop halten sollen, wenn sie angefragt werden, ein Expertinnen-Interview zu geben, oder wenn sie konstruktives Feedback bekommen, dann werden diese starken Frauen plötzlich von Selbstzweifeln überfallen, die sie lähmen.
Perfektionistisch veranlagte Menschen gehen mit sich selbst sehr streng um: Sie machen sich Vorwürfe, wenn sie etwas nicht perfekt hinbekommen. Der Gedanke «Ich kann das nicht» ist Perfektionismus in seiner bösartigsten Form. Wir schämen uns dafür, wenn wir etwas noch nicht wissen oder können. Das verhindert, dass wir Fragen stellen, ausprobieren und lernen.
Perfektionismus ist der Anspruch, etwas zu können, bevor man es gelernt hat
Die Angst vor dem Scheitern ist der eindeutigste Hinweis für Perfektionismus. Sie ist es, die uns davon abhält, unser Potenzial auszuschöpfen. Leider wird Perfektionismus oft verwechselt mit unserem Wunsch nach persönlicher Weiterentwicklung. Dabei stehen sich diese beiden Ansätze diametral gegenüber. Weiterentwicklung passiert durch ausprobieren, (teilweise) scheitern, Feedback einholen, noch mal versuchen, ein bisschen besser werden, Feedback integrieren, wiederholen etc. Wer so agiert, hat eine steile Lernkurve und kommt effektiv so viel schneller vorwärts.
Perfektionismus ist der Wunsch, durch Nachdenken Fehler zu vermeiden, die für unsere Weiterentwicklung unerlässlich sind
Doch Perfektionismus ist nicht wirklich die Angst davor, Fehler zu machen. Sondern er ist die Angst davor, was die Leute dann über einen denken. Das Paradoxe daran ist: Niemand mag perfekte Menschen. Wir alle fühlen uns zu authentischen Menschen hingezogen. Menschen, die nicht alles wissen und auch nicht so tun als ob. Sondern die offen sind, Fragen stellen, Feedback annehmen und Neues lernen wollen.
Was ist das Gegenmittel für Perfektionismus? Selbstvertrauen. Es ist die Gewissheit, dass alles mit uns in Ordnung ist, auch wenn wir etwas (noch) nicht können oder etwas in den Sand setzen. Selbstvertrauen führt dazu, dass wir mutig Neues ausprobieren, ohne uns dafür zu schämen. So verschwindet der ungesunde innere Druck, während die Leichtigkeit zurückkehrt in unseren Alltag und wir eine Gelassenheit ausstrahlen, die für alle rundherum anziehend wirkt.