Eine gute Freundin erkrankte vor einigen Jahren an Krebs. Während eines Spitalaufenthalts im Rahmen ihrer Chemotherapie war sie fest entschlossen, nicht über ihre Krebsgeschichte zu sprechen. Stattdessen wollte sie sich mit anderen über ihre Vorfreude auf die Zukunft, über all das, was sie in dieser schwierigen Zeit stärkt, und über das, was ihr im Moment guttut, austauschen. Sobald sie das Patient*innenOutfit angezogen hatte, erkannte sie, dass dies nicht einfach werden wird. Von Patient*innen, Krankenpfleger*innen und Ärzt*innen bekam sie immer wieder eine Frage gestellt: «Was ist deine Geschichte?» Gemeint war damit ihre Krankengeschichte. Durch wohlgemeinte Fragen der Menschen in ihrem Umfeld fühlte sie sich häufig nicht als eine Person wahrgenommen, die über Ressourcen, Fähigkeiten und ein Heilungspotenzial verfügt. Vielmehr hatte sie das Gefühl, auf ihre Geschichte reduziert zu werden. Genau genommen zeigten die Menschen nicht einmal Interesse an ihrer Geschichte, sondern vielmehr an der Geschichte ihres Tumors.
Unerwünschte Nebenwirkungen
Dieses gut gemeinte Interesse an den Details der Geschichte unserer Mitmenschen kann unerwünschte Nebenwirkungen auslösen. Je mehr Sie Ihr Gegenüber einladen, über das zu sprechen, was Schlimmes passiert ist, wie es so weit kommen konnte, wer alles dran beteiligt war und so weiter, umso grösser ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Problem noch grösser wird.
Lenken wir die Aufmerksamkeit auf das, was schiefgelaufen ist oder was schmerzhaft ist, kann dies die negativen Emotionen und Gedanken verstärken, die die betroffene Person bereits hat. Dies kann dazu führen, dass sich die Person noch schlechter fühlt. Werden negative Aspekte verstärkt, können zudem Hoffnung, Optimismus und der Glaube an eine positive Veränderung schwinden. Dies fördert weder die Handlungsfähigkeit noch die Zuversicht unserer Mitmenschen und von uns selbst.
Was stattdessen?
Es birgt Risiken, Menschen über tragische Ereignisse sprechen zu lassen, die sie erlebt haben. Dennoch gehen viele Menschen im Alltag davon aus, dass es notwendig ist, das Problem genau zu kennen und daher mit der Erzählung der Geschichte zu beginnen, bevor man mögliche Lösungen, Ideen, nächste Schritte entwickeln kann.
Was jedoch, wenn sie mehr Zeit dafür aufwenden, sich für das zu interessieren,
- was die Person möchte,
- wie ihre gewünschte Zukunft aussieht und
- was auf diesem Weg bereits jetzt schon funktioniert oder
- wie bisherige (wenn auch noch so kleine) Erfolge erzielt wurden.
Wir beobachten, wie in solchen Gesprächen Hoffnungen wachsen, da die Personen erkennen, dass sie ihre Zukunft beeinflussen können. Es gibt mittlerweile genügend Evidenz dafür, dass es nicht notwendig ist, das Problem oder die Ereignisse zu beschreiben, damit sich die Person verstanden fühlt und Veränderungen in Richtung eines erfüllteren Lebens vornimmt. Im Gegenteil, ein Gespräch über das, was die Person möchte, kann sehr beziehungsfördernd und handlungsbefähigend sein.
Zeigen Sie daher Interesse an den stärkenden Geschichten Ihrer Mitmenschen, an ihren Werten, Ressourcen und Stärken. Dies kann eine Vielzahl von positiven Wirkungen haben:
Stärkung der Resilienz: Das Fokussieren auf stärkende Aspekte hilft Menschen, ihre Resilienz zu stärken. Sie lernen, wie sie ihre Ressourcen nutzen (können), um Krisen und Schwierigkeiten zu überwinden.
Ermutigung zur positiven Veränderung: Indem Sie die Werte einer Person erkennen und unterstützen, können Sie sie ermutigen, positive Veränderungen in ihrem Leben vorzunehmen, die ihren Werten entsprechen.
Verbesserung der zwischenmenschlichen Beziehungen: Das Interesse an den Fähigkeiten einer Person und Gelingendem kann die Beziehung stärken, da sie sich verstanden und geschätzt fühlt. Dies kann das Vertrauen und die Verbundenheit fördern.
Förderung von Selbstvertrauen:
Durch das Hervorheben stärkender Qualitäten werden Menschen ermutigt, an sich selbst zu glauben und Vertrauen in ihre Fähigkeiten aufzubauen. Dies kann ihnen das Vertrauen geben, Herausforderungen zu bewältigen.Steigerung des Wohlbefindens: Wenn Menschen sich auf das konzentrieren, was sie stärkt und unterstützt, kann dies dazu beitragen, Stress zu reduzieren und das allgemeine Wohlbefinden zu steigern.
Inspiration: Indem Sie Erfolgsgeschichten anderer Menschen hören, stärken Sie nicht nur Ihr Gegenüber, sondern auch sich selbst. Möglicherweise finden Sie in den Antworten und Erzählungen für Ihr Leben Inspiration. Zudem werden auch Ihre Hoffnung und Zuversicht auf Veränderung gestärkt, wenn Sie mehr von den Ressourcen, Fähigkeiten und Handlungsmöglichkeiten hören, über die Ihre Mitmenschen, selbst in schwierigen Momenten, verfügen.
Werden Sie Resilienzforschende
Die südafrikanische Therapeutin Jacqui von Cziffra-Bergs und die kanadische Psychologin Brigitte Lavoie unterscheiden zwischen Resilienzforscher*innen und Ereignisforscher*innen. Sie laden uns mit dieser Metapher ein, in schwierigen Momenten all das zu fördern, was uns und unsere Gesprächspartner*in-nen stärkt, anstatt negative Erlebnisse durch wiederholtes Erzählen zu verstärken.
Ereignisforschende wollen herausfinden, was genau passiert ist, wer daran beteiligt war, wie sich die Person dabei gefühlt hat, was sie empfunden hat. Sie fokussieren damit auf das, was die Person in der Regel bereits weiss. Im Zentrum steht vor allem, dass die Person, die fragt, mehr erfährt, und weniger darin, die andere Person zu stärken.
Resilienzforschende wollen hingegen herausfinden, was der Person hilft, mit der schwierigen Situation umzugehen, was der Person in dieser Situation wichtig ist und wie sie handlungsfähig bleiben kann. Sie fokussieren Bemühungen, Erfolge, Fähigkeiten und Werte. Resilienzforschenden geht es vor allem darum, ihr Gegenüber zu stärken sowie Hoffnung auf Veränderung, Zuversicht und Handlungsfähigkeit zu fördern.
Fördern Sie Resilienz im Dialog. Stellen Sie dazu resilienzfördernde Fragen, die auf das fokussieren, was die Person möchte, und versuchen Sie herauszufinden, was die Person gerade stärkt.