08. November 2022

Führen ohne Dominanz: Was heisst das?

Führen ohne Dominanz

Führung schafft Klarheit. Trotz einer gewissen Sehnsucht nach dem Geführtwerden streben die meisten Menschen nach freier Entfaltung und mehr Eigenverantwortung im Job. Studien zeigen, dass die Zeit der strengen Patrons vorbei ist. Wer in der heutigen Welt Menschen für sich gewinnen will, muss frei von Härte und Dominanz, jedoch klar, lebendig und mit Empathie führen.

Von: Silke Weinig  

Silke Weinig

Coach, Trainerin und Bloggerin für Selbstmanagement, insbesondere nach den Methoden des Zürcher Ressourcen Modells (ZRM®). Sie führt zudem Persönlichkeitsanalysen durch und gibt Seminare und Workshops für Unternehmen und Privatpersonen.

Täglich können wir uns darüber in­formieren, wie künftig die Digitali­sierung in all unseren Lebensbereichen Einzug halten wird und welche Verän­derungen mit den weltweiten Entwicklungen in Richtung Industrie 4.0 möglich sind. Trotz vieler Szenarien ist jedoch un­klar, welche Rolle wir Menschen dabei spielen. Sind wir Opfer oder Gestalter der tief greifenden Veränderungen? Was bedeutet das für jeden Einzelnen? Wie wird sich das auf unsere Arbeitsrealität auswirken?

Die Welt wird komplexer

Der Begriff, der versucht, diese Komple­xität zusammenzufassen, lautet VUCA. VUCA steht für:

  • V = Volatilität/Schwankung, Unbestän­digkeit (Volatility): Sowohl die Natur als auch die Dynamik des Wandels entfalten enorme Kräfte. Sie sind die Katalysatoren für kommende Verände­rungen.
  • U = Ungewissheit (Uncertainty): Der Mangel an Berechenbarkeit und das fehlende Bewusstsein und Verständnis für Themen, Ereignisse und Zusam­menhänge sorgen für Ungewissheit.
  • C = Komplexität (Complexity): Der Anteil an Multioptionen und die Multi­komplexität steigen. Die Dynamik un­serer Systeme wächst weiter an. Die Vernetzungen werden unübersichtli­cher.
  • A = Mehrdeutigkeit (Ambiguity): Der Anteil an Ursache-Wirkung-Zusammen­hängen sinkt. Eindeutigkeit nimmt ab. Missdeutungen und Fehlinterpretatio­nen nehmen zu.

Erwartungen und Anforderungen werden komplexer

Mit der Zunahme an Komplexität ha­ben sich auch die Anforderungen an Führungskräfte in den letzten Jahren dramatisch verändert. Schneller und häufiger prasseln Veränderungen auf sie nieder, während sie sich im Spannungsfeld zwischen unterschiedlichen Aufgaben, Zielsetzungen und Erfolgserwartungen befinden. Wenngleich der autoritäre Führungsstil schon lange verpönt ist und koopera tive oder situative Führungsstile gefordert werden, sieht die Realität oft anders aus. Aus Unsicherheit und Kon­trollverlust wird mit Regelwerken und Mikromanagement eher die Hierarchie zementiert. Dabei ist ein Umdenken gefordert, um in der digitalisierten Welt Schritt halten zu können – oder man wird auf Dauer scheitern.

Zu engmaschiges Führen hemmt

Die Vorteile eines autoritären Führungs­stils mögen sein, dass schneller Entschei­dungen getroffen werden und Verant­wortliche leichter auszumachen sind, aber insgesamt zieht er ein Arbeitsklima nach sich, das sich für Unternehmen nachteilig auswirkt. Fehlende Kreativität, Passivität oder Frustration bis hin zu Resignation können Folgen sein, die sich am Ende im Unternehmensergebnis spiegeln.

Zwar erzeugt eine hierarchiegetriebene Führung eine gewisse Stabilität, aber das ist nur für stabile Umwelten wichtig. Obwohl derzeit noch engmaschig und primär hierarchisch geführte Konzerne wie Amazon oder Facebook äusserst erfolgreich sind, ist die Zeit des Führens ohne Macht längst angebrochen. Einen Vorgeschmack auf diese Wende erleben wir, wenn charismatische Firmengrün­der, die ihre Ideen zuvor leidenschaftlich, aber autoritär durchgesetzt haben, dem Unternehmen nicht mehr zur Verfügung stehen oder wenn ihre Aura sich verflüch­tigt, sobald der Erfolg ausbleibt. Hier zeigt sich, dass diese im alten Stil geführten Unternehmen zu langsam und vor allem zu unflexibel sind, um neue, zeitgemässe Wege zu gehen.

Sinnerleben als Motor für Produktivität

Insbesondere bei Firmen in der IT-Branche ist das Umdenken bereits Wirklichkeit ge­worden. Zunehmend organisieren diese sich agil und projektbezogen. Im Buch «Reinventing Organizations» des frühe­ren McKinsey-Beraters Frédéric Laloux erfährt man von zwölf namhaften Un­ternehmen, die ganz auf Hierarchie ver­zichten. Auffällig ist: Alle Mitarbeitenden fühlen sich einem sinnerfüllten Leitmotiv verbunden, das sie stärker zu guter Leis­tung motiviert, als es ein dominanter Füh­rungsstil vermöchte.

Führen ohne Macht ist die Königsdisziplin

Für Frédéric Laloux liegt die Zukunft in integral-evolutionären Organisationen, in denen die Ausrichtung der Arbeit an den Bedürfnissen der Menschen der wichtigs­te Impulsgeber ist. Die Grundidee hierfür hat er der Natur entnommen – diesem lebendigen Organismus mit all seiner Kom­plexität in einem komplexen Umfeld. Da eine integral-evolutionär geführte Orga­nisation wie ihr Pendant in der Natur we­der Machthierarchien noch Organigram-me kennt, sich aber eigenständig an die Umwelt anpasst, setzt sie Selbstmanage­ment, Sinnerleben und Ganzheitlichkeit bei jedem Einzelnen voraus.

Verwirklichungshierarchien statt Machthierarchien

Zukünftig geht es also darum, Führung vermehrt als Rolle zu verstehen und nicht als hierarchische Position. Je nach Fä­higkeiten und Motivation übernehmen Mitarbeitende nach Bedarf Rollen. Intrinsische Motivation durch eine gute Bezie­hung zu Kollegen rückt ins Blickfeld. Statt sich ständig mit sich selbst zu beschäfti­gen (Stichwort: Reorganisation), stehen die Kunden und konkrete Marktbedürf­nisse im Fokus. Die Entscheidungsfin­dung findet nicht mehr hierarchisch statt, sondern in einem Beratungsprozess und einer anschliessenden Verantwortungs­übernahme. Kosten können eingespart werden, indem Mitarbeitende auf allen Ebenen vor Ort und kundennah entschei­den können. Fehler sind erlaubt und wer­den als Lern- und Verbesserungschancen gesehen.

Servant Leader – der zeitgemässe Führungsstil

Wenn jeder zeitweise und projektbe­zogen eine Führungsrolle übernehmen darf, erhält Führung immer mehr Dienst­leistungscharakter. Mag sein, dass sich nicht jeder in einer solchen Organisation wohlfühlt. Aktuell führen jedoch Unbe­rechenbarkeit und Komplexität eher zu einer grösseren Regeldichte, zu Mikro­management und einem ausgebauten Controlling, was bei vielen Zynismus, Frustration und Resignation auslöst. Stu­dien von Arbeitspsychologen zufolge sind die Leistungsergebnisse jedes Ein­zelnen umso besser, je grösser der Entscheidungsfreiraum und das Sinnerleben sind. Aktiv Anteil an der Gesellschaft zu nehmen und die Zukunft mitzugestal-ten, sind stärkere Treiber als materielle Vergütungen. Mit der Digitalisierung der Arbeit und den Entwicklungen der Indus­trie 4.0 folgt eine Demokratisierung von Führung.

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