12. Oktober 2022

Die interaktionelle Sichtweise: Ungewohnt einflussreich

Die interaktionelle Sichtweise

Wir Menschen leben und erleben die Welt in Interaktion. Diese laufenden Interaktionen beeinflussen, was wir glauben, was wir denken und was wir tun. Allerdings merken dies die wenigsten, weil sie es nicht gewohnt sind, Interaktionen zu sehen.

Von: Elfriede Czerny, Dominik Godat  

Elfriede Czerny

Sie ist Coach und Potenzialentwicklerin. Gemeinsam mit Dominik Godat leitet sie das Zent­rum für lösungsfokussierte Führung.

Dominik Godat

Er ist Studienleiter des CAS Coaching als Führungs­kompetenz an der Hochschule Luzern und Buchautor.

Ein Mann steht auf der Brüstung einer Autobrücke. Unter ihm 30 Meter Ab­grund. Er will springen. Er will sich um­bringen. Das Leben macht für ihn kei­nen Sinn mehr. Nichts kann ihn mehr aufhalten. In dem Moment kommt Paul hinzu. Er sieht den Mann auf der Brü­cke, geht hin und spricht ihn an. Nach einem kurzen Blickkontakt antwortet ihm der Mann auf der Brüstung. Schritt für Schritt entwickelt sich ein Gespräch zwischen den beiden Männern. Zuerst stockend, dann immer fliessender. Sie reden übers Leben, über den Tod, über Hoffnung, über Familie, über den Sinn und Unsinn des Lebens. Die Situati­on entspannt sich Minute für Minute merklich. Nach einer Weile steigt der Mann von der Brüstung runter. Sie um­armen sich lange.

In der kurzen Zeit des Gespräches hat sich gleichzeitig nichts und doch alles verändert. Das Leben des Mannes auf der Brüstung, seine Herausforde­rungen und seine Lebensumstände sind noch immer die gleichen. Viele würden auch behaupten, der Mann auf der Brüstung sei noch immer der gleiche. Und doch ist alles anders. Aus Hoffnungslosigkeit erwuchs im Gespräch ein Funken Hoffnung. Aus der Überzeugung, der Freitod sei das einzig Richtige, entstand der Ent­scheid, dem Leben nochmals eine Chance zu geben. Und aus einem Mann, der sterben wollte, wurde ein Mann, der weiterlebte, ein Mann, der nochmals Hoffnung schöpfte. Und das «nur» durch ein Gespräch, durch eine Interaktion.

Dies geschah vor vier Jahren. Mittler­weile hat der Mann auf der Brücke wie­der zurück ins Leben gefunden, dank einer kurzen Interaktion zur richtigen Zeit, die ihm Kraft und Hoffnung gege­ben hat, und vielen weiteren Gesprä­chen in der Zwischenzeit.

Wir (er-)leben in Interaktion

Was in dieser Extremsituation geschah, passiert im Alltagsleben laufend. Wir sprechen miteinander und im Reden ändert sich die Situation. Wir erfahren andere Sichtweisen, wir ordnen Ge­schehnisse neu ein, wir entwickeln Ide­en, wir teilen Erfahrungen. Nach einem Streitgespräch fühlen wir uns vielleicht schlecht. Aus anderen Gesprächen ge­hen wir gestärkt und euphorisch raus.

Unser gesamtes Leben spielt sich in Interaktion ab. Das, was Sie glauben, was Sie fühlen, was Sie tun, ist beein­flusst von Interaktionen, die Sie in der Vergangenheit gehabt haben und im Moment haben. Sie leben und erleben sich in und durch Interaktionen.

Interaktionen beeinflussen das Leben

Interaktionen beeinflussen sämtliche Bereiche des Lebens. Ihre Sicht der Dinge, Ihre Meinungen, Ihre Ein­stellungen haben Sie in Gesprächen und durch Gespräche entwickelt. Ihre Einschätzungen, ob etwas gut oder schlecht ist, entstehen in Interaktion. Wenn jemand zum Beispiel die mo­mentane Situation als dramatisch ein­stuft, dann geschieht etwas bei Ihnen. Sie nehmen darauf Bezug, indem Sie vielleicht die Sichtweise übernehmen oder Ihre eigenen Gedanken einbrin­gen. Sie teilen möglicherweise Ihre Einschätzung mit anderen.

Sie gehen aus Gesprächen anders he­raus, als Sie hineingingen. Sie haben eine – auch wenn vielleicht nur gering­fügig – andere Sichtweise. Sie und Ihr Leben verändern sich durch Interaktio­nen laufend.

Eine ungewohnte Sichtweise

Unsere Interaktionen beeinflussen un­ser Leben weit mehr, als wir merken. Nicht weil wir dies nicht merken könn­ten, sondern weil wir es nicht gewohnt sind, Interaktionen zu sehen. Die interaktionelle Sichtweise ist noch immer eine ungewohnte Sichtweise. Momen­tan dominieren vielmehr Ansätze, die entweder nur auf eine Person schau­en – anstatt darauf, was wir gemein­sam in Interaktion machen, Ansätze, die innere Prozesse zu beschreiben versuchen – anstatt das, was zwischen den Menschen geschieht, oder Ansät­ze, die globale und verallgemeinernde Konzepte verwenden – anstatt zu be­obachten, was tatsächlich geschieht.

Folgen wir einer interaktionellen Sicht­weise, dann schauen wir darauf,

  • was Menschen zusammen Moment für Moment in Interaktion tun,
  • wie Menschen sich gegenseitig wechselseitig beeinfl ussen,
  • wie Bedeutung in der jeweiligen In­teraktion entsteht und sich verän­dert und
  • was aus dieser gemeinsamen Inter­aktion im weiteren Verlauf entsteht.

Interaktionen sind beobachtbar

Die interaktionelle Sichtweise hat ei­nen grossen Vorteil im Vergleich zu an­deren Ansätzen: Alles, was geschieht, ist beobachtbar. Wir können ganz praktisch sehen, wer was sagt, wie Per­sonen miteinander reagieren, wie die Gesprächspartner*innen miteinander interagieren, wie sie sich aufeinander beziehen und was daraus entsteht.

Dies mag einfach klingen, ist jedoch alles andere als selbstverständlich. Viele der heutigen Ansätze sind eher theoretisch und nicht empirisch beob­achtbar, insbesondere diejenigen, die sich vermeintlich inneren Prozessen oder globalen, verallgemeinernden Konzepten widmen.

Persönlichkeit als interaktionelles Phänomen

Nehmen wir eine interaktionelle Sicht­weise ein, schauen wir auch anders auf Persönlichkeit. Ansätze, die her­ausfinden möchten, was in Menschen vorgeht, definieren Persönlichkeit oft als etwas eher Stabiles im Inneren von Menschen. Mit einer interaktionellen Perspektive hingegen wird Persön­lichkeit zu etwas, was sich zwischen Menschen in Interaktion abspielt. Menschen agieren und reagieren dank den gemachten und laufenden Inter­aktionen auf die Welt. Und wie die In­teraktionen entwickeln sich auch die Menschen laufend.

Wirksame Interaktionen

Mit vielem, was wir in Gesprächen tun, beeinflussen wir die jeweilige Interaktion. Beobachten Sie Ihren Einfluss: Wenn Sie Ihre heutigen Gespräche Revue passieren lassen:

  • Wie haben Sie die Gespräche beeinflusst?
  • Was haben Sie genau getan und welche Wirkung hatte dies?
  • Wie haben Ihre Gegenüber darauf reagiert?
  • Wie hat sie diese Reaktion wiederum beeinflusst?
  • Was ist daraus weiter im Gespräch entstanden?
  • Was ist daraus nach dem Gespräch entstanden?

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