Ein Mann steht auf der Brüstung einer Autobrücke. Unter ihm 30 Meter Abgrund. Er will springen. Er will sich umbringen. Das Leben macht für ihn keinen Sinn mehr. Nichts kann ihn mehr aufhalten. In dem Moment kommt Paul hinzu. Er sieht den Mann auf der Brücke, geht hin und spricht ihn an. Nach einem kurzen Blickkontakt antwortet ihm der Mann auf der Brüstung. Schritt für Schritt entwickelt sich ein Gespräch zwischen den beiden Männern. Zuerst stockend, dann immer fliessender. Sie reden übers Leben, über den Tod, über Hoffnung, über Familie, über den Sinn und Unsinn des Lebens. Die Situation entspannt sich Minute für Minute merklich. Nach einer Weile steigt der Mann von der Brüstung runter. Sie umarmen sich lange.
In der kurzen Zeit des Gespräches hat sich gleichzeitig nichts und doch alles verändert. Das Leben des Mannes auf der Brüstung, seine Herausforderungen und seine Lebensumstände sind noch immer die gleichen. Viele würden auch behaupten, der Mann auf der Brüstung sei noch immer der gleiche. Und doch ist alles anders. Aus Hoffnungslosigkeit erwuchs im Gespräch ein Funken Hoffnung. Aus der Überzeugung, der Freitod sei das einzig Richtige, entstand der Entscheid, dem Leben nochmals eine Chance zu geben. Und aus einem Mann, der sterben wollte, wurde ein Mann, der weiterlebte, ein Mann, der nochmals Hoffnung schöpfte. Und das «nur» durch ein Gespräch, durch eine Interaktion.
Dies geschah vor vier Jahren. Mittlerweile hat der Mann auf der Brücke wieder zurück ins Leben gefunden, dank einer kurzen Interaktion zur richtigen Zeit, die ihm Kraft und Hoffnung gegeben hat, und vielen weiteren Gesprächen in der Zwischenzeit.
Wir (er-)leben in Interaktion
Was in dieser Extremsituation geschah, passiert im Alltagsleben laufend. Wir sprechen miteinander und im Reden ändert sich die Situation. Wir erfahren andere Sichtweisen, wir ordnen Geschehnisse neu ein, wir entwickeln Ideen, wir teilen Erfahrungen. Nach einem Streitgespräch fühlen wir uns vielleicht schlecht. Aus anderen Gesprächen gehen wir gestärkt und euphorisch raus.
Unser gesamtes Leben spielt sich in Interaktion ab. Das, was Sie glauben, was Sie fühlen, was Sie tun, ist beeinflusst von Interaktionen, die Sie in der Vergangenheit gehabt haben und im Moment haben. Sie leben und erleben sich in und durch Interaktionen.
Interaktionen beeinflussen das Leben
Interaktionen beeinflussen sämtliche Bereiche des Lebens. Ihre Sicht der Dinge, Ihre Meinungen, Ihre Einstellungen haben Sie in Gesprächen und durch Gespräche entwickelt. Ihre Einschätzungen, ob etwas gut oder schlecht ist, entstehen in Interaktion. Wenn jemand zum Beispiel die momentane Situation als dramatisch einstuft, dann geschieht etwas bei Ihnen. Sie nehmen darauf Bezug, indem Sie vielleicht die Sichtweise übernehmen oder Ihre eigenen Gedanken einbringen. Sie teilen möglicherweise Ihre Einschätzung mit anderen.
Sie gehen aus Gesprächen anders heraus, als Sie hineingingen. Sie haben eine – auch wenn vielleicht nur geringfügig – andere Sichtweise. Sie und Ihr Leben verändern sich durch Interaktionen laufend.
Eine ungewohnte Sichtweise
Unsere Interaktionen beeinflussen unser Leben weit mehr, als wir merken. Nicht weil wir dies nicht merken könnten, sondern weil wir es nicht gewohnt sind, Interaktionen zu sehen. Die interaktionelle Sichtweise ist noch immer eine ungewohnte Sichtweise. Momentan dominieren vielmehr Ansätze, die entweder nur auf eine Person schauen – anstatt darauf, was wir gemeinsam in Interaktion machen, Ansätze, die innere Prozesse zu beschreiben versuchen – anstatt das, was zwischen den Menschen geschieht, oder Ansätze, die globale und verallgemeinernde Konzepte verwenden – anstatt zu beobachten, was tatsächlich geschieht.
Folgen wir einer interaktionellen Sichtweise, dann schauen wir darauf,
- was Menschen zusammen Moment für Moment in Interaktion tun,
- wie Menschen sich gegenseitig wechselseitig beeinfl ussen,
- wie Bedeutung in der jeweiligen Interaktion entsteht und sich verändert und
- was aus dieser gemeinsamen Interaktion im weiteren Verlauf entsteht.
Interaktionen sind beobachtbar
Die interaktionelle Sichtweise hat einen grossen Vorteil im Vergleich zu anderen Ansätzen: Alles, was geschieht, ist beobachtbar. Wir können ganz praktisch sehen, wer was sagt, wie Personen miteinander reagieren, wie die Gesprächspartner*innen miteinander interagieren, wie sie sich aufeinander beziehen und was daraus entsteht.
Dies mag einfach klingen, ist jedoch alles andere als selbstverständlich. Viele der heutigen Ansätze sind eher theoretisch und nicht empirisch beobachtbar, insbesondere diejenigen, die sich vermeintlich inneren Prozessen oder globalen, verallgemeinernden Konzepten widmen.
Persönlichkeit als interaktionelles Phänomen
Nehmen wir eine interaktionelle Sichtweise ein, schauen wir auch anders auf Persönlichkeit. Ansätze, die herausfinden möchten, was in Menschen vorgeht, definieren Persönlichkeit oft als etwas eher Stabiles im Inneren von Menschen. Mit einer interaktionellen Perspektive hingegen wird Persönlichkeit zu etwas, was sich zwischen Menschen in Interaktion abspielt. Menschen agieren und reagieren dank den gemachten und laufenden Interaktionen auf die Welt. Und wie die Interaktionen entwickeln sich auch die Menschen laufend.
Wirksame Interaktionen
Mit vielem, was wir in Gesprächen tun, beeinflussen wir die jeweilige Interaktion. Beobachten Sie Ihren Einfluss: Wenn Sie Ihre heutigen Gespräche Revue passieren lassen:
- Wie haben Sie die Gespräche beeinflusst?
- Was haben Sie genau getan und welche Wirkung hatte dies?
- Wie haben Ihre Gegenüber darauf reagiert?
- Wie hat sie diese Reaktion wiederum beeinflusst?
- Was ist daraus weiter im Gespräch entstanden?
- Was ist daraus nach dem Gespräch entstanden?