18. Juni 2024

Abstand: Vom unterschiedlichen Raumverhalten in anderen Kulturen

Abstand

«Rück mir nicht auf die Pelle!» Diesen Appell kennen wir sicher alle. Doch sind wir uns auch dessen bewusst, dass die «Pelle» und damit das Raumverständnis und Raumverhalten kulturabhängig vollkommen konträr sein können?

Von: Irene Pill  

Dr. Irene Pill

Dr. Irene Pill

Dr. Irene Pill arbeitet als Dozentin und Trainerin für Interkulturelle Kompetenzen, unter anderem an der Fernfachhochschule Schweiz.

Abstand ist nicht gleich Abstand

Wer wie ich regelmässig hinter Chiasso die italienische Autostrada gen Süden be­fährt, muss hinter der Schweizer Grenze jedes Mal zunächst tief durchatmen, um sich dann an die in nächste Nähe auf­rückenden und seitlich vorbeiflitzenden Fahrzeuge zu gewöhnen.

Haben Sie ähnliche Erfahrungen ge­macht? Sind Sie vielleicht schon einmal ins Schwitzen geraten, war Ihnen unwohl oder haben Sie sich gestört gefühlt und gar geärgert, weil Ihr Gegenüber Ihnen zu nah gekommen ist – ganz gleich, ob per Auto oder physisch?

Diese spezielle Form nonverbaler Kommu­nikation kann Ihnen innerhalb Ihrer eige­nen Kultur passieren, woanders allerdings kommt sie häufig vor und ist bisweilen aus­gesprochen konfliktträchtig. Der Sicher­heitsabstand, den jedes Individuum be­nötigt, um sich wohlzufühlen und gegen «Eindringlinge» zu schützen, ist kulturbe­dingt: Räumliche Signale werden im Rah­men der Sozialisation, des Hineinwachsens in die eigene Kultur erlernt und gedeutet. Oft aber ist man sich dieses kulturtypi­schen Raumverständnisses nicht bewusst, und die Gefahr ist gross, in unangenehme Situationen zu geraten. Der vermeintlich falsche, als belästigend verstandene Zwi­schenraum ist Ursache für Fehlinterpreta­tionen und empfindliche Störungen. Dabei kann das Unterschreiten ebenso wie das Überschreiten des Abstands als unbehag­lich wahrgenommen werden. 

Auf Tuchfühlung

Beispiele lassen sich zuhauf anführen. Deutsche und US-Amerikaner beklagen sich oft, dass Südländer ständig ganz nah dran und reichlich aufdringlich seien. Und Südländer monieren häufig, dass Deutsche und US-Amerikaner sich so distan­ziert, kalt und wenig vertrauensvoll ver­hielten. Die Crux dabei ist: Wenn jemand einem zu nahe tritt, rückt man automa­tisch von dem angeblichen Bedränger weg; allerdings versteht der Kommunika­tionspartner mitunter das Zurückweichen falsch und rückt erneut auf, um wieder eine im wahrsten Sinne des Wortes ent­gegenkommende Nähe zu erzeugen – ein klassischer Teufelskreis.

Kontaktreiche Kulturen bevorzugen also viel körperliches Nahesein, während kon­taktarme Kulturen körperlichen Abstand wahren. In der Schweiz, Deutschland, Skandinavien oder Nordamerika wird als noch halbwegs angenehme interpersonale Distanz allermindestens die Länge eines ausgestreckten Arms angegeben, das sind 50 Zentimeter, besser jedoch mehr als 1,50 Meter. In lateinamerikani­schen, arabischen und südeuropäischen Ländern ist die Entfernung voneinander wesentlich kürzer und manchmal so klein, dass sich Personen mit Händen oder Schultern berühren und sogar der Atem zu spüren ist.

Von Sitzplätzen und Handtüchern

Das kulturell stark differierende Raum­empfinden offenbart sich ebenso bei der unterschiedlichen Raumsprache. So zeigen beispielsweise Deutsche oft ein markantes Territorialverhalten. Bei ihnen ist der Stellenwert von Sitzplatzreservie­rungen, ob im Restaurant, Bus oder Zug, nicht selten ausgesprochen hoch. Das Bedürfnis nach räumlicher Abgrenzung, Vorhersehbarkeit und Unsicherheitsver­meidung kommt dabei auch am Pool und Strand zum Ausdruck – nicht immer zur reinen Freude anderer Erholungs-suchender. 

Nähe und Distanz

Was aber soll man nun in solchen interkulturellen Begegnungssituationen tun, wo ein konträres Verständnis von Nähe und Distanz Potenzial für Konflikte birgt?

  • Zunächst einmal ist es entscheidend, dass man überhaupt erkennt, dass aus einandergehendes Raumverständnis und -verhalten dahinterstecken, wenn einem jemand scheinbar zu nah auf die Pelle rückt und man genervt reagiert.
  • Dann sollte man sich klarmachen, dass das Verhalten des Kommunikations­partners mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht aggressiv gemeint ist, sondern schlicht eine interkulturelle Herausfor­derung bedeutet. Der zugegebener­massen nicht ganz einfache Königsweg für kulturadäquates Raumverhalten ist also, so zu agieren, dass man sich durch den anderen nicht bedrängt fühlt, die­ser aber auch nicht den Eindruck ge­winnt, dass er abgewiesen wird.

  • Und nicht zuletzt sollten international agierende Unternehmen darauf ach­ten, dass bei interkulturellen Trainings, neben vielen anderen Aspekten natür­lich, insbesondere die nonverbale Kom­munikation mit dem unterschiedlichen Raumverhalten eine zentrale Rolle ein­nimmt, um Missverständnisse oder Kon­flikte gar nicht erst entstehen zu lassen.

Wie gesagt, immer wenn ich hinter Chiasso auf die italienische Autostrada komme, atme ich erst einmal tief durch. Und dann freue ich mich, dass ich mich nach kurzer Zeit an das andersartige Raumverständnis gewöhne – und mit ei­nem angenehmen Flow gen Süden fahre.

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