21. Juni 2022

Selbstverwirklichung: Soll Arbeit Spass machen?

Selbstverwirklichung

Ob Arbeit Spass macht oder nur Broterwerb ist, hängt wesentlich von zwei Faktoren ab: dem grundlegenden Lebenskonzept (Credo) und der Kultur in der Firma. Und wenn Arbeit wirklich das halbe Leben ist, dann darf erwartet werden, dass sie (auch) mit Spass und Selbstverwirklichung verbunden ist.

Von: Peter Wyss  

MA (lic.phil.) Peter Wyss

Peter Wyss, MA (lic.phil.), ist Begründer der FLOW-Kultur® und Autor des Buches «Hierarchiefrei ist besser! Mit FLOW-Kultur zum Management auf Augen höhe». Seit 24 Jahren begleitet er Unternehmen auf dem Weg zu einer freiheitlicheren, men-schlicheren Kultur mit involvierten und enga-gierten Mitarbeitenden – und verhilft ihnen zu mehr Freude, Flow und Erfolg. Seine Kern-kompetenzen sind Kulturentwicklung, Team-bildung und Coaching, auf Deutsch, Franzö-sisch, Englisch und Italienisch.

Das grundlegende Lebenskonzept

Mein grundlegendes Lebenskonzept be­stimmt, wie ich Arbeit erlebe. Ist das Le­ben für mich vor allem hart, ein Kampf, kein Zuckerschlecken? Oder ein grosses Geschenk, ein Wunder, ein Spiel, Magie? Wer das Leben als Kampf sieht, der wird auch die Arbeit als Last erleben, die le­diglich zum Broterwerb dient. Und wer das Leben als ein Spiel ansieht, als eine Möglichkeit zum Erforschen und Wach­sen, der wird auch von der Arbeit Spass und Selbstverwirklichung erwarten.

Solche Lebenskonzepte haben wir schon als kleine Kinder von unseren Vorbildern (z.B. Eltern) übernommen, unbewusst und ungeprüft. Und wenn wir diese Konzepte nicht über Bord werfen und bewusst durch solche ersetzen, die uns wirklich entsprechen, haben wir sie heu­te noch – ebenso unbewusst, wie wir sie übernommen haben. Wir können unsere Lebenskonzepte aber auch neu gestalten. Wir sind nicht Opfer unserer Konditionie­rungen. Wir können uns als Schöpfer unserer eigenen Realität begreifen und Verantwortung übernehmen für das, was in unserem Leben geschieht. Aufhören, anderen Menschen oder den Umständen die Schuld zu geben.

Leistungsprinzip oder Spielprinzip?

Wir wurden getrimmt auf Leistung. Als kleine Kinder waren wir noch im Spiel­modus, aber spätestens mit Schuleintritt wurde die Spiel-Idee von der Leistungs-Idee verdrängt: «Das Leben ist kein Pony hof. Erst die Arbeit, dann das Ver­gnügen. No pain, no gain.» Ist das der Sinn des Lebens? Nein, das ist einfach die Idee unserer Gesellschaft. Wir sind dar­auf konditioniert, Schule und Arbeit als ein notwendiges Übel anzusehen. Dabei wissen wir, dass Kinder und Erwachsene mit der Spiel-Idee signifikant besser ler­nen, denn sie operiert nicht mit Druck. Die Leistungs-Idee mit ihrem Druck blo­ckiert das Grosshirn und behindert so den Lernprozess, und dann übernimmt das Reptilienhirn mit seinen alten Mus­tern von Kampf, Flucht, Erstarrung oder Unterwerfung das Szepter.

Die Angst, dass Menschen ohne Druck keine Leistung erbringen, ist in einer hier­archischen Kultur durchaus berechtigt. Aber in einer freiheitlichen Kultur sind Menschen erfinderisch, neugierig, kreativ und freuen sich über ihre erbrachten Leis­tungen. So sieht man Geparde im Zoo z.B. niemals rennen, in der Freiheit hingegen sind sie pfeilschnell. Lassen wir doch die Menschen auch im Job frei und emanzi­pieren wir sie von der Bevormundung am Arbeitsplatz, wo viele als Befehlsempfän­ger ihre Arbeit verrichten.

Die zwei Szenarien: «Hamsterrad und Egoverwirklichung» oder «Spass und Selbstverwirklichung»

Szenario 1: Hamsterrad und Egoverwirklichung

Hier ist Arbeit reiner Broterwerb, macht keinen Spass und ermöglicht keine Selbstverwirklichung – das Leben findet in den Randzeiten statt. Die Trennung zwischen mühseliger Arbeit und schö­nem Leben zeigt sich anschaulich im Be­griff «Work-Life-Balance»: Da haben wir auf der einen Seite der Waage die Arbeit und auf der anderen Seite das Leben. Der Begriff suggeriert, dass wir nicht leben, wenn wir arbeiten, und dass nicht beides gemeinsam zu haben ist: entweder Arbeit oder Leben.

In den verbleibenden Stunden des Rest­lebens könnte dann die Selbstverwirk­lichung stattfinden, aber nach der Be­vormundung am Arbeitsplatz fehlt oft die Energie dazu. Stattdessen suchen viele den oberflächlichen Spass mit einer kurzfristigen Bedürfnisbefriedigung, die mit wahrer Selbstverwirklichung nichts zu tun hat, denn damit wird nicht unser (hohes) Selbst verwirklicht, sondern le­diglich unser Ego befriedigt. Die am Arbeitsplatz nicht ermöglichte Selbst­verwirklichung und Potenzialentfaltung versuchen wir mit «Egoverwirklichung» zu kompensieren, mit Ersatzgütern (Status, Geld, Luxus), die nicht nachhaltig glücklich machen.

Szenario 2: Spass und Selbstverwirklichung

Hier gehen wir es spielerisch und mit Freude an. Keine Verschiebung des Le­bens auf Randzeiten, keine Trennung zwi­schen Work und Life. Weil das Spiel-Prin­zip regiert, macht jeder Schritt auf dem Weg Spass, und die Energielosigkeit und das Bedürfnis nach Egoverwirklichung

verschwinden. Und so wachsen wir und liefern ganz nebenbei eine Top-Leistung ab. Dazu braucht es eine Entwicklung unseres Bewusstseins, eine Öffnung für ganz neue Lebens- und Arbeitsmodelle sowie die Überwindung alter Konditio­nierungen und eingefahrener Muster. Ohne innere Arbeit können wir die an­stehenden Probleme nicht an der Wurzel packen und nachhaltig lösen. Diesen Zusammenhängen gehe ich übrigens in meinem Buch auf den Grund.

Die Kultur in der Firma soll Spass und Selbstverwirklichung fördern

Diese innere Arbeit der Mitarbeitenden (inkl. Geschäftsleitung und Inhaber­schaft) gelingt dann am besten, wenn sie von einer Unternehmenskultur unter­stützt wird, die Spass und Selbstverwirkli­chung fördert. In hierarchischen Kulturen des «Command and Control» verkommt die Arbeit zum reinen Broterwerb, denn niemand hat Freude daran, nach der Pfei­fe der Vorgesetzten zu tanzen: Kein ge­sunder, selbstbewusster Mensch lässt sich gerne bevormunden, herumkommandie­ren und in seiner Kreativität beschränken.

Mit der Entwicklung der Unternehmens­kultur hin zu Vertrauen und Augenhöhe schaffen wir die Voraussetzungen für Selbstverwirklichung und Spass bei der Arbeit. In der Selbstorganisation bekom­men Menschen Entscheidungskompe­tenzen und Bewegungsfreiheit, über­nehmen Verantwortung, und so halten Freude und Selbstverwirklichung Einzug.

Natürlich kann nicht jede Arbeit jederzeit Spass machen – aber wir können uns da­ran annähern, auch an sog. Bullshit-Jobs mehr Freude zu haben. Es ist eine Frage der Einstellung: Bin ich bereit, eine Arbeit mit Freude auszuführen, oder überlasse ich mich den Gedanken von Unzufrieden­heit? Und habe ich im Betrieb die Mög­lichkeit, mich zu entfalten und mich über meine bestmögliche Leistung zu freuen?

Fazit

Die Zeit, in der wir schlafen, einmal ausgeklammert, verbringen arbeitstätige Menschen die meiste Zeit ihres Lebens bei der Arbeit. Und diese Zeit soll nicht Spass machen und der Selbstverwirklichung dienen dürfen? Es liegt an uns selbst, unserem Leben den ursprünglichen Sinn zurückzugeben und Freude und Selbst­verwirklichung an den Arbeitsplatz zu bringen. Wir brauchen neue Lebens- und Arbeitskonzepte: ein neues Mindset und eine neue Methode, die auf Command and Control verzichtet und die Betroffe­nen zu Beteiligten macht. Hierarchie be­deutet Arbeit als Pflicht und Broterwerb, hierarchiefrei bedeutet Selbstverwirkli­chung, Sinn und Spass.

Um unsere Website laufend zu verbessern, verwenden wir Cookies. Durch die Nutzung dieser Website stimmen Sie der Verwendung von Cookies zu. Mehr Infos