Begriffe wie agiles Vorgehen und New Work sind in aller Munde. Oberflächlich betrachtet verstehen viele darunter ständige Anpassung an veränderte Rahmenbedingungen und bezeichnen ihr Vorgehen in der Corona-Krise als «agil». Doch Homeoffice und kurzfristige Krisenentscheidungen, wie wir sie bei COVID-19 erlebt haben, machen noch kein agiles Unternehmen. Tatsächlich geht das sog. «agile Vorgehen» auf ein 2001 formuliertes Manifest mit Prinzipien zur effizienten IT-Programmierung zurück. Dessen Kernwerte wurden von zahlreichen Autoren dann auf das Vorgehen in Organisationen übertragen und als «agiles Management» bezeichnet. Betrachtet man die agilen Prinzipien genauer, so finden sich darin viele Ähnlichkeiten mit jahrzehntealten Grundsätzen der Organisationsentwicklung (OE):
1. Partizipation
Betroffene zu Beteiligten zu machen und in Entscheidungen einzubeziehen, ist ein Grundprinzip der klassischen Organisationsentwicklung. Wenn Mitarbeitende die künftige Ausrichtung ihres Unternehmens mitgestalten können, entsteht Verständnis und Motivation für die Umsetzung von Massnahmen. Grossgruppenformate wie World Café, RTSC, Zukunftskonferenzen oder Open Space sind Methoden, die seit vielen Jahren zur Co-Kreation einer gemeinsamen Zukunft erfolgreich eingesetzt werden. Die neu entwickelten agilen Methoden wie «Design Thinking», «Work-Hacks» oder «Konsent-Moderation» helfen, Partizipation im Alltag und bei Innovationsprozessen zu ermöglichen. Beteiligung kann in agilen Unternehmen sehr weit gehen: Auch Sparprogramme, Investitionen und Kündigungen werden hier gemeinsam entschieden.
2. Transparenz
Wer mitbestimmen soll, muss auch über die wesentlichen Zahlen, Daten und Fakten Bescheid wissen. Offene Information über alle Unternehmenskennzahlen, frei zugängliches Wissen und Lohntransparenz sind daher für agile Unternehmen selbstverständlich. Mit Information über aktuelle Kennzahlen, Kanban Boards und Wissensdatenbanken ermöglicht «Open Book Management» den Mitarbeitenden Einblick in Prozesse und in die Unternehmenssituation.
3. Dynamische Steuerung
Weil in einer komplexen, dynamischen Umwelt mit hohem Konkurrenzdruck vieles nicht mehr plan- und vorhersehbar ist, müssen Aufgaben, Verantwortungen und Entscheidungen ständig neu entschieden und verteilt werden. Prozesshandbücher, Kompetenzregelungen und Stellenbeschreibungen, welche mühevoll im Detail ausgearbeitet und dann für Jahre festgelegt wurden, hinken der Realität meist nach. Das Prinzip «do – measure – learn» besagt ein ständiges Reflektieren und Anpassen von Entscheidungen. Diese dynamische Steuerung wirkt sich auch auf die Strategiearbeit aus: Aus langfristig angestrebten «strategischen Gipfeln» wird ein Weg von Hügel zu Hügel mit Orientierung an einem «Fixstern», dem sog. «Purpose» oder Existenzgrund der Organisation. Somit haben sich auch jährliche Zielvereinbarungsgespräche, in denen die Jahresziele auf Teams und schliesslich auf die einzelnen Mitarbeitenden «heruntergebrochen» werden, überlebt: In vielen Organisationen sind die zum Jahresbeginn vereinbarten Ziele schon nach wenigen Monaten obsolet, weil sich relevante Rahmenbedingungen verändert haben. Agile Unternehmen arbeiten daher mit vierteljährlichen «Objectives and Key Results (OKRs)», welche sich am Purpose orientieren und unter starker Beteiligung der Mitarbeitenden verhandelt und gemeinsam verfolgt werden. Auch hier finden sich wieder die Prinzipien Partizipation und Transparenz.
4. Vertrauenskultur
Wenn Mitarbeitende offenen Zugang zu allen Zahlen haben, in wesentliche Entscheidungen einbezogen werden oder sich selbst organisieren und eigenverantwortlich entscheiden sollen, braucht es vor allem eines: eine Kultur des Vertrauens. Führungskräfte müssen in die Kompetenzen und Entwicklungsfähigkeit ihrer Mitarbeitenden vertrauen. Ständige Kontrolle und Überwachung, Stechuhren und bürokratisches Berichtswesen passen nicht zu New Work und eigenverantwortlichem Handeln. Gleichzeitig müssen die Führungskräfte ihren Mitarbeitenden auch etwas zutrauen bzw. Lernprozesse zumuten, wenn diese mitentscheiden sollen: Sowohl betriebswirtschaftliche Kenntnisse wie auch Verantwortungsübernahme, Kommunikations-, Team- und Konfliktfähigkeit fallen nicht vom Himmel. Sie müssen erlernt und eingeübt werden, um fundiert mitreden und planen zu können.
5. Selbstorganisation und verteilte Führung
Agiles Management vertraut – wie auch die klassische Organisationsentwicklung – auf Selbstorganisation und Problemlösungskompetenz der Betroffenen. In agilen Organisationen werden Aufgaben, Kompetenzen und Verantwortung dynamisch und situativ im Team verteilt und gestaltet. Man entwickelt gemeinsam neue Konzepte, probiert und evaluiert. Verantwortung und Entscheidungen liegen bei jenen, welche für ein Thema zuständig sind. Die Last der Führung wird somit auf mehrere Schultern verteilt. Das erfordert gute Abstimmung in regelmässigen Kreisen.
6. Servant Leadership
Auch agile Organisationen mit starker Partizipation, Transparenz und Selbstorganisation brauchen Führung. Das Verständnis der Führungskraft von ihrer Funktion ist jedoch anders als in stark hierarchischen Organisationen: Führung wird verstanden als «Dienen an der Organisation» oder «Servant Leadership». Ihre Hauptaufgabe besteht darin, optimale Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen die Teams und die einzelnen Mitarbeitenden ihre Arbeit gut bewältigen können. Leadership in agilen Organisationen setzt auf Befähigung (Empowerment) und Förderung der Selbstverantwortung. Der Umgang ist kollegial «auf Augenhöhe». Das erfordert Empathie, die Fähigkeit, zuzuhören, zu fragen und mit unterschiedlichen Meinungen umgehen zu können. Agile Leader treffen bewusste Entscheidungen im Dialog und können diese auch mit guten Argumenten belegen. Sie steuern mit der Grundhaltung: «Was nützt der Organisation?», und nicht mit der Frage: «Was unterstützt meine Macht?». Sie orientieren sich dabei am Purpose und an den gemeinsam definierten Werten der Organisation.